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Ein reichhaltiges Leben ...
voller Widersprüche und Geradlinigkeiten
In Dorsten und in der Region war sie bekannter als der Bürgermeister. Nur wer von draußen kam, sie nicht kannte, mag überrascht gewesen sein von „unserer“ Sr. Paula. Die traditionell steife, die Bewegung hemmende, gleichmachende und vieles zudeckende Ordenstracht machte sie schon lange nicht mehr zur anonymen Streiterin Gottes und Braut Jesus, bei der nur das Gesicht in schwarz-weißer Umrahmung noch den sichtbaren Menschen ausmachte. Das Habit legten die Dorstener Ursulinen nach eigenem Ermessen und nie ganz unumstritten ab.
Unmerklich vom Alter der beiden letzten Lebensjahrzehnte gebeugt, stand vor einem eine groß gewachsene, dennoch zierlich wirkende, weißhaarige Dame in kniekurzem Rock, Pullover und Kniestrümpfen. Dazu ein Halstuch und eine Cordjacke, auf dem Kopf die unverwechselbare gestrickte Baskenmütze. Und wenn sie so vor einem stand, erzählte und gestikulierte und sprach, dann war sie ganz Dame von preußischem Einschlag: Aristokratin von Geburt und Erziehung, das ließ sich auch nach einem so reichhaltigen Leben im Auf und Ab der Widersprüche und Lebensformen nicht leugnen.
Ich kenne keine zweite Frau, die mit ihrer Kunst, Literatur und ihrer Persönlichkeit ein ganzes Jahrhundert so verkörpert wie Sr. Paula.
Eine höchst ungewöhnliche Frau
Im hohen Alter wendete sie sich immer stärker nach außen, was sie durch leidvolle Erfahrungen in sich verschlossen hatte. Ihr reich geschwungener Lebensweg, ihn 1903 auf Schloss Tressow (Dorf Gressow) in Mecklenburg betreten, als Künstlerin in Berlin, Paris und England nicht zur Freude ihrer ganzen Familie fortgeführt, als Ehefrau eines reichen Kaufmanns jüdischer Abstammung, dann als die eines preußischen Junkers weitergegangen, Bildhauerin, Sozialfürsorgerin und Journalistin nach dem Kriege, führte die zum Katholizismus konvertierte und Lebenshalt suchende Künstlerin schließlich 1950 ins Dorstener Ordenshaus der Ursulinen. „Untertauchen, Identität verlieren, aus allem raus, aus der Isolation des Standes, aus der Überlieferung, aus den Bindungen“, war stets ihr gedanklicher Lebensbegleiter und Lawrence von Arabien ihr Held, der Held ihrer Generation. Denn er, der englische Schriftsteller, der unter anderem Namen in den Militärdienst ging und bei einem Motorradunfall ums Leben kam, war ein Leitbild ihrer frühen Jahre, im Verborgenen vielleicht bis an ihr Lebensende.
Tisas Leben war ein Untertauchen, bei dem sie mehr als einmal den Boden unter den Füßen nicht mehr fühlte. Ihre Heirat und Emigration, ihre Zuwendung zu englischen Bergarbeitern, wo sie sich zerschmettern lassen wollte, „damit irgendwelche Splitter fruchtbar weiterwirken“, ihre Konversion zum katholische Glauben: das alles war ihre neue Haut, die sie brauchte, um auch die Schicksalsschläge während der NS-Diktatur zu überwinden, die ihren Lieblingsbruder Fritz, der von 1928 bis 1932 Assessor beim Landratsamt Recklinghausen gewesen war, das Leben kostete. Er wurde wegen des Attentats auf Hitler 1944 als Verschwörer hingerichtet.
Untertauchen in die Anonymität des Klosters
Damit fing Sr. Paula ihr Leben im freiheitlichen Nachkriegsdeutschland an. Warum Dorsten? Warum gerade nach Berlin und London jetzt Dorsten? Hamburg war ihr zu kaufmännisch-kalt, Süddeutschland zu schwülstig-barock. Um in der Nähe der Bergleute zu sein („Meine dunklen Brüder“), kam sie durch private Beziehungen nach Dorsten, einer Stadt, die für die Nachkriegsjugend neu aufgebaut werden musste. Denn das alte Dorsten starb im Bombenhagel des Jahres 1945. Sr. Paula damals: „Entweder raffen wir uns auf und geben der Stadt das Gepräge, oder wir denken nur an Essen und Trinken und lassen diese alte Stadt zu einem gesichtslosen Gebilde werden!“ Sr. Paula war eine von denen, die mithalfen, der Lippestadt das Gepräge zu geben. „Ich spreche aus ganzem Herzen mein Ja zu Dorsten.“
Die Stadt erkor die preußische Generalstochter und künstlerische Nonne 1972 zu ihrer Ehrenbürgerin und gründete zwanzig Jahre später ihr zu Ehren die kommunale Tisa von der Schulenburg-Stiftung, um Nachwuchskünstler und -künstlerinnen zu fördern.
In ihrer Rede bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft sagte sie: „Man kann aus seiner Haut nicht raus … Es geht nur um eins, mit jedem Wurf neu zu versuchen, ob es mir nicht gelingt, als Künstler besser zu verstehen, als Mensch besser zu werden. C’ést ça..“
Die Klostermauern wurden im Laufe der Jahre transparent. Sr. Paula tauchte wieder auf wie ein Stabhochspringer über Mauern. Und mit ihr kam der reiche Schatz der menschlichen und künstlerischen Erfahrung ihren langen Lebens zum Vorschein, das sie wie besessen niederschrieb, um der Jugend ein stiller und schlichter und dennoch eindringlicher Mahner zu sein, wobei sie den Zeigefinger nie lehrend erhob, sondern mit ihm hindeutete auf all das Leid und die Not der Menschheit – hier und in der Welt.
Wolf Stegemann